Homo sovieticus?
- geschrieben von Bernard Gaida
- Publiziert in Blogs
„Das alles zusammen bildet unsere Identität, die in Schlesien nach dem Krieg immer wieder erniedrigt, ausgerottet und aus unseren Herzen verbannt wurde. Es wurde uns eingeredet, dass wir uns für die deutsche Sprache und Kultur eher schämen sollen als auf sie stolz zu sein. Als eine Gemeinschaft müssen wir uns an die Brust schlagen, da es in tausenden Familien nicht nur aus Angst aber auch aufgrund dessen, dass wir uns das einreden gelassen haben, befinden sich so viele in Identitätsschwankungen“.
Genau dieser Satz in meiner Einleitung zu den Wallfahrtsgedanken, die ich am Sonntag, den 2. Juni, auf dem St. Annaberg vorgetragen habe, trafen auf eine belebte Reaktion. Denn auch heute noch wird die Unkenntnis der deutschen Sprache damit entschuldigt, dass man Angst vor Repressalien in der Volksrepublik Polen gehabt habe. Diese Angst ist die Wahrheit. Ist es aber die einzige Wahrheit? Da wir in diesen Tagen nicht nur an 30 Jahre der ersten deutschsprachigen Messe in Oberschlesien seit dem Kriegsende, sondern auch an die ersten "halbdemokratischen" Wahlen erinnern, gehe ich als Teilnehmer der damaligen Ereignisse in Gedanken zum intellektuellen Klima dieser Zeit zurück. Einen wichtigen Anteil hatte der Philosoph Pfr. Józef Tischner, der im Jahr 1990 den Begriff „homo sovieticus” gebrauchte, um einen Menschen zu beschreiben, der sich nicht von den Merkmalen des Lebens im Kommunismus trennen kann, obwohl dieser untergegangen ist.
Gestern habe ich erfahren, dass Tischner diesen Begriff gar nicht erfunden hat, sondern ihn vom russischen Dissidenten Zinowiew übernommen hat. Ihm nach bestehe die russische Gesellschaft "aus geleeartigen Individuen und erinnern selbst an einen Gelee. Es ist eine Gesellschaft von Chamäleons und ist als ganzes auch ein riesiges Chamäleon." Für Tischner ist der „homo sovieticus” eine Form der "Flucht vor der Freiheit", in der die "geleeartigen Individuen" nicht leben können, weil sie eigenständiges Handeln und Entscheidungen fordert. Ohne sie kommt die Versuchung, alle Unglücke der Vergangenheit für immer festzuhalten, immer dazu bereit zu sein, andere und nicht sich selbst zu beschuldigen und unfähig zu sein sich für die Überwindung der Vergangenheit einzusetzen. Solche Individuen wollte der Kommunismus, um ihnen das Leben nach eigenen Vorstellungen zu gestalten, um ihnen alles einreden zu können, ihre Gedanken zu formen und Reaktionen vorherzusehen. Tischner wusste, dass der „homo sovieticus” in den Menschen nach der Volksrepublik Polen stark und sogar vererbbar ist.
Jeder muss sich Gedanken machen, wie viel Unfähigkeit die Konsequenzen der kulturellen Diskriminierung zu überwinden nur noch bequeme Entschuldigung ist, wie viel davon geben wir an die junge Generation weiter, die von keinem mehr diskriminiert wird? Ist es nicht Zeit diesen Kreis zu durchbrechen? Schreiben wir uns zum Deutschkurs ein, schalten Kindern KIKA ein, kaufen deutsche Bücher, hören die Tagesthemen, besuchen die deutsche Messe, erzählen den Kindern vom Deutschtum ihrer Vorfahren, wählen als Urlaubsziel auch mal Weimar und nicht nur Paris oder Dubrovnik. Nehmen wir unser kulturelles Schicksal in unsere Hände.