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Opfer der Rache der Sieger

Die letzte Zeit war reich an Reflexionen zu den Nachkriegsjahren aus der Perspektive der Deutschen in Russland, Rumänien und bei uns. Sowohl im Museum der Deutschen in Marx als auch in Novosibirsk befindet sich an zentraler Stelle der berühmte Befehl Stalins vom August 1941 über die Deportation der Deutschen in die Weiten des Ostens der UdSSR. In jedem Gespräch mit den Menschen kommt die Information darüber, wo der Vater oder der Großvater geboren wurde, denn niemand von ihnen lebt da, woher seine Vorfahren stammten. Für uns alteingesessene Schlesier klingt das unglaublich.

Einen besonderen Eindruck hatte ich von der Teilnahme an den Gedenkfeierlichkeiten in Reschitz in Rumänien, wo an die zehntausende im Jahr 1945 in die UdSSR deportierten Deutschen erinnert wurde. Zwei Tatsachen blieben mir dabei lange im Gedächtnis. Zum einen unzählige Bilder und Reliefs in Holz, erstellt sowohl von Deportierten, die das Glück hatten zurückzukommen, sowie auch von jüngeren Künstlern und Amateuren, die in den letzten Jahren von den Erzählungen über die Hölle inspiriert wurden. In verschiedenen plastischen Techniken tauchen immer wieder dieselben Elemente auf: Viehwaggons, Särge, Soldaten mit rotem Stern auf der Mütze, Winter, das Innere von Bergwerken, Gerippe, Bündel auf Rücken, Pritschen in Baracken...

Das zweite, was mir in Erinnerung blieb, waren Treffen mit einigen Menschen, die damals deportiert wurden. Alle über 90 Jahre alt. Der Vorsitzende ihres Vereins, der 94jährige Bernhard Fischer, hatte nach einer Andacht in der Kirche eine ergreifende Rede gehalten, in der er mit unerwartet starker Stimme als Grund für den Tod und das Leid vieler unschuldiger Menschen, sowohl während als auch nach dem Krieg, die Abkehr von christlichen Werten nannte - von den Nazis ebenso wie von den Kommunisten. Schließlich rief er zur Rückkehr zu diesen christlichen Werten auf, da sie der Garant dafür seien, dass sich solche Ereignisse und Zeiten nicht wiederholen.

Erfüllt von diesen Worten nahm ich am Tag darauf mit hunderten Menschen an der Andacht in der Lamsdorfer Kirche teil, in der wir für die Opfer, aber auch für die Täter, beteten und das folgende Fragment der Bibel hörten (Lk, 6,365-38): "Eure Feinde sollt ihr lieben! Tut Gutes und leiht, ohne etwas zurückzuerwarten! Dann bekommt ihr reichen Lohn: Ihr werdet zu Kindern des Höchsten. Denn auch er ist gut zu den undankbaren und schlechten Menschen. Werdet barmherzig, so wie euer Vater barmherzig ist!"

Diese Werte und nicht das alttestamentarische und immer noch von vielen gelebte "Zahn um Zahn" kann die Welt vor einer Wiederholung bewahren. Deshalb dürfen wir nicht nur der Opfer des Krieges gedenken, sondern auch der Zeit, in der durch die Rache der Sieger viele ihr Leben verloren haben. Die Alliierten hätten es nicht dazu kommen lassen sollen. Dies ist mit dem Christentum nicht vereinbar.

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Umgang mit einem Tabu

In der letzten Woche folgte ich der Einladung der Deutschen Gesellschaft e.V. zur Teilnahme an einer Tagung über die Vertriebenen in der DDR mit dem Untertitel „Zum Umgang mit einem Tabu“. Meine Aufgabe war, die Rolle der Vertriebenen im Prozess der deutsch-polnischen Verständigung zu schildern. Aber wichtig ist, dass ich dank der Konferenz sehr viel Neues über die Lage der Vertriebenen in der DDR lernen konnte.

Dank meiner sächsischen Verwandtschaft habe ich von klein auf mit dem Leben der dortigen Schlesier zu tun gehabt, aber ich wusste nichts über die stummen  Sonntagsdemonstrationen in Görlitz an der Neiße oder über das Problem der Integration der protestantischen Vertriebenen aus Ostpreußen und Pommern im lutherischen Mecklenburg. Wer weiß auch, dass Menschen, die in den 50er Jahren versucht haben, Vereine der Umsiedler (so die offizielle Bezeichnung) zu gründen, zu mehrjährigen Haftstrafen verurteilt wurden, weswegen die Menschen  Orte wie z.B. den ZOO in Leipzig aufsuchten, wo sie sich ohne Registrierung versammeln konnten. Das alles fiel damals unter die Bezeichnung „Tabu“. 

Aber die wichtigste Äußerung kam von einem Mann, der verzweifelt meinte, das Tabu herrsche aus politischen Gründen immer noch. Er selbst war als Kind von 1945 bis 1949 in Potulitz inhaftiert und hatte  wenige Jahre zuvor bei Kriegsbeginn im Bromberger Blutsonntag durch die Hände polnischer Mitbürger seine Großeltern verloren. Bis heute habe er keine Forschungen gefunden, die sich mit dem Entzug  der Säuglinge von den deutschen Müttern und deren Adoption durch polnische Familien befasst haben. Er sagte fast weinend, dass die Mütter deswegen monatelang  geschrien haben. Genauso könne er nirgendwo über sexuelle Gewalt in dem Lager hören, die oft mit einer Abtreibung  der Schwangerschaft unter schrecklichen Umständen zum Tod der Frauen führten. Er fragte, warum keiner forsche, wie viele Fälle es gewesen sind und welches Schicksal die geraubten und polonisierten Kinder erlebten. Er fragte auch, warum für die Opfer des Nazi-Lagers in Potulitz ein gepflegter Friedhof mit individuellen Gräbern eingerichtet wurde, die tausende Opfer des Nachkriegslagers dagegen nur unter einem Kreuz in einem Massengrab zwischen zwei Kiesgruben liegen. Anschließend  bestätigte eine junge Frau, die sich als Krankenschwester vorgestellt hatte, dass  diesbezüglich weiterhin ein Tabu herrsche. Sowohl im Schulwesen als auch in den Berufsschulen für zukünftige Pflegerinnen werde nichts über diese Geschehnisse gesagt, aber in Pflege- und Altersheimen  haben sie massenweise mit Frauen zu tun, die durch solche Schicksale traumatisiert sind. Das Weinen und Schreien dauere ganze Nächte.

In der Tagung wurde mehrmals gesagt, dass in den sog. neuen Bundesländern fast keine Forschungen zu dieser Thematik durchgeführt wurden, obwohl in manchen Gebieten durch Flucht und Vertreibung  die Bevölkerung sich verdoppelt hat. Die Tagung sollte ein Zeichen sein, dass die Einstellung sich verändert hat, aber die Diskutanten meinten meistens, es sei bereits zu spät. Dies zeigte mir eindeutig, wie wichtig unser Vorhaben ist, der deutschen Opfer der Nachkriegsgewalt nächstes Jahr besonders zu gedenken. Aber vielleicht müssen auch wir um gründliche Forschungen ringen überall dort, wo das noch nicht getan worden ist.

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Homo sovieticus?

„Das alles zusammen bildet unsere Identität, die in Schlesien nach dem Krieg immer wieder erniedrigt, ausgerottet und aus unseren Herzen verbannt wurde. Es wurde uns eingeredet, dass wir uns für die deutsche Sprache und Kultur eher schämen sollen als auf sie stolz zu sein. Als eine Gemeinschaft müssen wir uns an die Brust schlagen, da es in tausenden Familien nicht nur aus Angst aber auch aufgrund dessen, dass wir uns das einreden gelassen haben, befinden sich so viele in Identitätsschwankungen“.

Genau dieser Satz in meiner Einleitung zu den Wallfahrtsgedanken, die ich am Sonntag, den 2. Juni, auf dem St. Annaberg vorgetragen habe, trafen auf eine belebte Reaktion. Denn auch heute noch wird die Unkenntnis der deutschen Sprache damit entschuldigt, dass man Angst vor Repressalien in der Volksrepublik Polen gehabt habe. Diese Angst ist die Wahrheit. Ist es aber die einzige Wahrheit? Da wir in diesen Tagen nicht nur an 30 Jahre der ersten deutschsprachigen Messe in Oberschlesien seit dem Kriegsende, sondern auch an die ersten "halbdemokratischen" Wahlen erinnern, gehe ich als Teilnehmer der damaligen Ereignisse in Gedanken zum intellektuellen Klima dieser Zeit zurück. Einen wichtigen Anteil hatte der Philosoph Pfr. Józef Tischner, der im Jahr 1990 den Begriff „homo sovieticus” gebrauchte, um einen Menschen zu beschreiben, der sich nicht von den Merkmalen des Lebens im Kommunismus trennen kann, obwohl dieser untergegangen ist.

Gestern habe ich erfahren, dass Tischner diesen Begriff gar nicht erfunden hat, sondern ihn vom russischen Dissidenten Zinowiew übernommen hat. Ihm nach bestehe die russische Gesellschaft "aus geleeartigen Individuen und erinnern selbst an einen Gelee. Es ist eine Gesellschaft von Chamäleons und ist als ganzes auch ein riesiges Chamäleon." Für Tischner ist der „homo sovieticus” eine Form der "Flucht vor der Freiheit", in der die "geleeartigen Individuen" nicht leben können, weil sie eigenständiges Handeln und Entscheidungen fordert. Ohne sie kommt die Versuchung, alle Unglücke der Vergangenheit für immer festzuhalten, immer dazu bereit zu sein, andere und nicht sich selbst zu beschuldigen und unfähig zu sein sich für die Überwindung der Vergangenheit einzusetzen. Solche Individuen wollte der Kommunismus, um ihnen das Leben nach eigenen Vorstellungen zu gestalten, um ihnen alles einreden zu können, ihre Gedanken zu formen und Reaktionen vorherzusehen. Tischner wusste, dass der „homo sovieticus” in den Menschen nach der Volksrepublik Polen stark und sogar vererbbar ist.

Jeder muss sich Gedanken machen, wie viel Unfähigkeit die Konsequenzen der kulturellen Diskriminierung zu überwinden nur noch bequeme Entschuldigung ist, wie viel davon geben wir an die junge Generation weiter, die von keinem mehr diskriminiert wird? Ist es nicht Zeit diesen Kreis zu durchbrechen? Schreiben wir uns zum Deutschkurs ein, schalten Kindern KIKA ein, kaufen deutsche Bücher, hören die Tagesthemen, besuchen die deutsche Messe, erzählen den Kindern vom Deutschtum ihrer Vorfahren, wählen als Urlaubsziel auch mal Weimar und nicht nur Paris oder Dubrovnik. Nehmen wir unser kulturelles Schicksal in unsere Hände.

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