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Stühle

Foto: Bernard Gaida Foto: Bernard Gaida

Heute war ich wieder einmal im Bundestag. Diesmal in einem Gebäude, das nach Paul Löbe, einem bedeutenden SPD-Politiker benannt ist, der aus Liegnitz stammte. Als Schlesier mag ich es, in diesem Haus zu sein. Mit dem Gesicht zum Gebäude des Reichstages stehend sieht man den modernen Bau auf der linken Seite.

Heute konnte man aber nicht auf der großen Wiese zwischen dem Reichstag und dem Bundeskanzleramt stehen. Sie war nämlich zugestellt mit Stühlen. Ich dachte, abends oder am nächsten Tag gibt es hier eine große politische oder kulturelle Veranstaltung. Ich suchte in Gedanken nach einem Datum, einem Jahrestag oder einem Festivalnamen, der infrage käme, doch ich fand nichts und ging einfach zum geplanten Gespräch.

Die Stühle fielen mir erneut ins Auge, als ich nach dem Treffen zwischen ihnen durchging, um mir den Weg zu verkürzen. Als ich zwischen ihnen stand, könnte man mit ein wenig Übertreibung sagen, dass sie bis zum Horizont reichten. Kurze Zeit später, beim Abendessen genoss ich ein bayrisches Bier und hatte die Stühle schon wieder vergessen. Es ist peinlich das zuzugeben, aber als ich während des Essens im Internet surfte, stieß ich eben auf dieses Bild der Stühle. Ich fing an zu lesen.

Eine Gruppe von Menschen, darunter Christoph Waffenschmidt (Vorstandsvorsitzender von World Vision Deutschland), stellte 13.000 Stühle auf, die der Zahl von Flüchtlingen entspricht, die derzeit im Lager Moria auf der Insel Lesbos sind. Einer der Kommentare zu dieser Information war: „Als ich vor einem Jahr in Moria war, war es fast leer! Nur 5000 Menschen, die sich in ein Lager zwängten, das für 2000 gebaut war. Ich kann mir nicht vorstellen, wie es aussieht, wenn die dreifache Menge Menschen dort lebt. Da muss etwas geschehen“.  Einige Posts weiter schrieb jemand eine Antwort darauf: „Ich kann es nicht erwarten, hier eine europäische, konstruktive Veränderung zu sehen“. 

Und auf einmal wurde mir bewusst, dass seit Monaten Nachrichten über Flüchtlinge verschwunden sind, sie wurden von täglichen Meldungen über Corona verdrängt. Doch die Menschen sind nicht aus den Lagern verschwunden, sondern nur aus der Sicht der Medien. Der Anblick der Tausenden von Stühlen wirkt auf die Vorstellungskraft und lässt uns nach unseren Grundlagen wie Liebe, Solidarität, die Welt der Werte, Stereotypen, Verantwortung der Politiker und unserer eigenen fragen. Hinzu kommt die Frage nach der Ungleichheit in der Welt und den Mauern, hinter denen der reichere Teil versucht, sich immer weniger wirksam vor der Armut zu verstecken.

Letzte Änderung am Mittwoch, 09 September 2020 14:02