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Erozja

Als im Jahr 2016 im Zuge des damaligen Versuches das Abtreibungsgesetz zu ändern durch die Straßen Manifestationen gingen, schrieb ich einen Feuilleton unter dem Titel „Die Tugend der Klugheit“. Damals zitierte ich den Katechismus der katholischen Kirche, der über diese Tugend schreibt, sie mache „die praktische Vernunft bereit (…), in jeder Lage unser wahres Gut zu erfassen und die richtigen Mittel zu wählen, um es zu erlangen“ (KKK 1806). Damals wie heute finde ich, dass es an dieser Klugheit fehlt.

Das Urteil des Verfassungsgerichtes, das – wie in seiner abweichenden Meinung Leon Kieres zeigte – auf perfide Weise von feigen Politikern als Werkzeug genutzt wurde, um durch die Hintertür ein Abtreibungsverbot bei besonders schwerer behinderung des Fötus einzuführen, zerstörte einen schwer erkämpften Kompromiss. Er wurde unwürdig zerstört, weil es ohne Debatte stattfand, die sich bei Themen von solch ethisch-moralischer Bedeutung einfach gehört. Er wurde unklug zerstört, denn man vergaß die Wahl richtiger Mittel für das Gute. Das Pendel wurde soweit in eine Richtung gespannt, dass morgen oder in einigen Jahren, wenn es losgelassen wird, wiederum extrem in die andere Richtung ausschlägt, dass das Abtreibungsrecht in heute unvorstellbare Richtungen liberalisiert wird. Das zeigen die Slogans auf den Straßen.

Abtreibung steht im Gegensatz zu meinem Wertesystem, deshalb sehe ich es ganz klar. Das Problem von Leben und Tod, der Verantwortung für das Spenden und den Schutz des Lebens wurde auf die Barrikaden eines vielschichtig geteilten Landes gedrängt. Man verlor die Chance den Wert des Lebens zu schützen, wenn man sich in diesem Fall einer List bediente und ein wichtiges Thema in den Saal eines Gerichtes presst, das vorher seiner Autorität beraubt wurde. Dabei ist ja das Recht auf Abtreibung keine Anordnung und lässt die Wahl sich für das Leben zu entscheiden.

In einer Situation, in der sowohl die Kirche als auch der Staat ihre Autorität und die Werte das bis vor kurzem Heilige, das eigene Sacrum, verloren haben, bleibt der einzige würdige Ort das persönliche und gut geformte Gewissen. Dieses braucht aber Ruhe und keine Urteile. Wer trägt aber die Verantwortung dafür, dass nicht das sensible Gewissen zu Wort kommt, sondern die Polizei, Schimpfworte, die Entweihung von Gottesdiensten, Straßenschlachten? Wer führte dazu, dass tausende junge Menschen in eine Menge gedrängt wurden, die über die Freiheit zur Entscheidung „über die eigene Gebärmutter“ für immer aus dieser Menge herauskommt mit einem betäubten Gewissen?

Es sind Politiker, die das Gewissen gegen ein Urteil tauschten und Empörung generierten, aber auch Angst. Ich verstehe die Angst der Eltern vor der Geburt eines schwerbehinderten Kindes in einem Land, in dem viele Krankheiten geheilt werden dank Geldspenden über das Internet und nicht dank des staatlichen Gesundheitsfonds! Zu Zeiten des Sozialismus versuchte die Kirche die Gewissen zu formen, um vom Abtreibungsrecht aus sozialen Gründen nicht Gebrauch zu machen. Das Formen des Gewissens ist eine Mission für die Familie, die Kirche, für jeden von uns. Doch das braucht Autorität. Wer diese nicht besitzt, will sie mit Gewalt erzwingen. Ich werde also nicht in einer Menschenmenge mitgehen, die anstößige Slogans ruft, um nicht Hand anzulegen an der Betäubung der Gewissen. Doch ich werde wiederholen, jemandem seine bürgerliche Freiheit wegzunehmen bedeutet die Verantwortung für sein Handeln zu zerstören. Und damit auch für den Staat.

Tränengas der Miliz brannte in meinen Augen während des Kriegszustandes, als es um die Grundrechte ging, darunter auch die freie Wahl. Wenn Menschen sich massenhaft für die bürgerlichen Freiheiten aussprechen, sollte mich das freuen. Aber … Wenn alle Protestierenden an den letzten Wahlen teilgenommen hätten, wären die heutigen Proteste unnötig. Ich befürchte auch, dass ein großer Teil der heute Protestierenden an den kommenden Wahlen ebenso nicht teilnehmen wird. Er wird unklug handeln, gibt seine Verantwortung ab und beruhigt sein Gewissen. Denn die Erosion der Werte geht an vielen Fronten weiter.

Letzte Änderung am Donnerstag, 29 Oktober 2020 10:07